Offener Brief an meinen Schach-Präsidenten

Gespeichert von c4 am Do., 14.05.2020 - 14:54

Lieber Andreas,
mit Erleichterung habe ich Deinen letzten Bericht (vom 13.05.) auf der Homepage gelesen !
Sachsen-Anhalt hat also den Anspruch, die Nach-Corona-Ära seiner Schachvereine mit eigenen Ideen zu gestalten und wird nicht sklavisch das nachvollziehen, was auf höchster Ebene für die Profi-Ligen irgendwann beschlossen werden wird. 
Gut zu sehen, das in S-A noch selbstständig gedacht wird !

Die Ligen einfach irgendwann zu Ende zu bringen, ist eine mögliche Lösung, die ich gut akzeptieren kann, die aber auch offensichtliche Nachteile hat. Diese Nachteile ergeben sich aus Problemen, die ohnehin auf dem Ligensystem lasten - und jetzt durch die Corona-Krise nochmal schärfer hervortreten werden. Die Krise ist mir Anlass, aber nicht Ursache, um einige Denkanstöße für die Zukunft zu geben. 

Wird denn wirklich alles wieder werden, wie vor "Corona" ? 
Nachdem ich die Ideensammlungen vom grundsätzlich lobenswerten "Zukunfts-Wochenende" des LSV durchsah, beschlich mich ein seltsames Gefühl. Bildlich gesprochen: Als würde es die oberste Vorgabe sein, einen verschlissenen alten Gebrauchtwagen detailverliebt zu Restaurieren, der vor 25 Jahren mal sehr gut funktioniert hat, aber zuletzt ständig Probleme machte. Für ein neues Modell war irgendwie so gar kein Platz in der Garage. 
Scheuen wir tatsächlich Konzepte, die nicht von gestern sind ? 

Zum konkreten Fortgang der Ligen :
Wenn wir die Ligen zu Ende spielen wollen, dann können diese Termine zwangsläufig erst zu einem jetzt noch unbekannten Zeitpunkt - kurzfristig - festgelegt werden. Speziell in Vereinen, für die es weder um Aufstieg noch um Abstieg geht, ist zumindest die leistungssportliche Motivation für diese Spiele entsprechend gering, was sich vermutlich in den Aufstellungen niederschlagen wird. Die Kurzfristigkeit wäre ebenso ein Problem für Vereine, deren Spieler von außerhalb kommen und denen deshalb nur bei langfristiger Planung eine Teilnahme möglich ist. Ich befürchte ausgedünnte Mannschaften und bizarre Spiele. 
(Nebenbei: Der Vorschlag eines einzigen Relegationstermins, bei dem die Aufstiegs-Willigen gegen die Abstiegs-Unwilligen direkte Duelle durchführen. siehe www.hettschach.de. ).

Allgemeine Überlegungen zu den Ligen:

1. Ausgangslage: 
Die deutlich erkennbare Entwicklung der letzten Dekade im Deutschen Schachbund ist, dass die Anzahl der Vereine kontinuierlich sinkt - während die Gesamt-Mitgliederzahl ungefähr konstant bliebt. Also ist der klare Trend, dass die einzelnen Schachvereine größer werden. 
Die Schachfreunde Hettstedt (Beispiel) sind einer der größten Vereine in S-A und wir haben alljährlich bei den Mannschaftsaufstellungen gewisse Probleme, die sich auch bei anderen Vereinen künftig einstellen dürften - oder die dort ebenfalls schon längst Alltag sind:
- Ein Teil der Mitglieder hat unsere Stadt längst verlassen, wohnt teils weit weg, bleibt aber unserem Schachverein treu. Nur Mannschaftskämpfe klappen recht selten.
- Ein anderer Teil sind Senioren. Hier sind Ausfälle durch Krankheiten häufiger, aber auch Ausfälle durch die Pflege erkrankter Ehepartner etc.
- Ein weiterer Teil sind Kinder und Jugendliche, deren Verfügbarkeit für Schachtermine nicht nur vom eigenen Interesse, sondern auch von den elterlichen Wochenendplänen abhängen. Und die Priorität und Verbindlichkeit des konkreten Schachtermins für die Familien hat sich in den letzten 20 Jahren leider ungünstig verändert.
- Die tatsächlich mit Abstand kleinste Gruppe sind die "Mittel-Alten", die weitgehend zuverlässige Mitspieler aus eigenem Willen sein können  

2. Gedanken zur jährlichen Mannschaftsaufstellung
Wen melde ich wo ? Melde ich den fertigen Studenten auf Jobsuche, der vielleicht weit weg Arbeit findet und eventuell erstmal gar nicht spielen wird ? Melde ich den sonst zuverlässigen Senioren, der zuletzt lange krank war und immer noch nicht gesund ist ? (Oder sage ich ihm: Tut mir leid, das wird wohl nichts mehr mit Dir und Du blockierst dann nur einen der 20 Melde-Plätze . . . )  Melde ich den Schüler, wo der Vater Arbeits-Pendler ist und an den Wochenenden seit 2 Jahren ein Haus in Dresden ausbaut ?  
Ich habe 20 Plätze je Mannschaft ! Ich weiß, dass mehr als die Hälfte meiner Leute objektiv nur wenige Spiele bestreiten können. Einige weitere vielleicht gar nicht, aber eben nur vielleicht. Und ich weiß vorher kaum etwas darüber, wie sich das verteilt. 
Ich versuche also irgendwie so aufzustellen, dass ich in der Besetzungsnot die Wahl habe entweder hinten frei zu lassen (was sportlich meist ein Wegschenken des Wettkampfs bedeutet), oder vorn frei zu lassen (was eine saftige "Strafgebühr ergibt). Tatsächlich ist es im Besetzungsnotfall (für die Moral der Spieler) manchmal besser, die sportliche Chance in der eigenen Partie zu wahren und vorn frei zu lassen, selbst dann, wenn das Mannschaftsergebnis unwichtig ist.  Zumal, wenn es keine verfügbaren Nachrücker mehr gibt. (Selbst wenn ich z.B. einen schwächeren Schüler in der Reserve gemeldet hätte, wäre ein einmaliger Einsatz ohne reale Chance noch "Förderung und Erfahrung sammeln", ein mehrmaliger aber "Verheizen und Demotivation". Mehrere Kinder abwechselnd einzusetzen zu können wäre wieder "Förderung und Erfahrung sammeln".
Aber ich darf ja insgesamt nur 20 Leute melden !  
Aber es wird noch paradoxer: Wenn ich aus einer Situation der objektiven Not durch fehlende Spieler nun eine taktische Aufstellung versuche, um das unvermeidliche Verschenken der Punkte ein wenig zu steuern - dann könnte mein Verein in den Verdacht halbseidener Manipulation geraten. 

3. Fazit
Nur dann, wenn ein Landesverband seinen Vereinen bei frei gelassenen Brettern grundsätzlich geplante Manipulation unterstellt - sind gigantische Strafgelder ein folgerichtiger Versuch zur Lösung des Problems. (Zum Vergleich: Die neu eingeführte DWZ-Schranke in den Ligen versucht mit einer durchdachten SPORTLICHEN Ergänzung eine Verbesserung zu erreichen.) 
Tragisch ist aber, dass beide Beschlüsse lediglich als einseitige Verschärfungen (Restriktionen) auf das bestehende System aufgepfropft sind. Es fehlt die Ausgewogenheit. Hätte man nicht sofort gleichzeitig versuchen müssen, den Handlungsspielraum der Vereine zu erhöhen, um ihnen die Flexibilität zu geben, Probleme wie z.B. frei gelassene Bretter bzw. Strafgelder zu vermeiden ?  
  
Denkbar ist vieles: 
Jugendförderndend wäre z.B., alle U18 Spieler nicht in das Kontingent der 20 Meldeplätze einzurechnen. 
Aber auch eine schlichte Erhöhung des Melde-Kontingents wäre eine Verbesserung. 
Oder ein ganz originelles Beispiel: Irgendwo in Deutschland meldet jeder Verein seine komplette Mitgliederliste als Rangliste für alle Ligen - und daraus werden für jedes Spiel die Aufstellungen geschöpft - unter Einhaltung dieser Rangfolge (ich habe vergessen, wo das so gemacht wird). 

Es gäbe so viel mehr Möglichkeiten zu erwägen. Möglichst jenseits der finanziellen Ausplünderung der Vereine bei Personalproblemen, welche zudem vom aktuellen Reglement gesetzmässig befördert werden.
Die oft beschworene "Zukunft" unseres Landesschachverbandes wird wohl auch durch noch so schlau ausgedachte Restriktionen nicht aus dem Status quo heraus zu pressen sein. Dafür braucht es frischere Ideen. Mit Sicherheit sind auch einige der (Liga-)Strukturen, in denen ich mich seit über 40 Jahren bewege, aktuell schon längst reif für die Ehrengalerie der Geschichte. 
Nur welche ? 

Viele Grüße
Dirk Michael