Isolani im Lockdown Teil 2 / Erinnerungen an Parchim 1989

Gespeichert von c4 am Di., 12.01.2021 - 23:23

Irgendwas mit Schach ? Momentan nicht mal zu ahnen. 

Da erwärmen mich Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Meine erste mehrtägige Meisterschaft als Nachwuchstrainer erlebte ich vom 13. bis 18. Februar 1989 in Parchim. Für diese Bezirksmeisterschaft des "Bezirkes Halle" hatte sich mein Schützling Daniela qualifiziert. Ich hatte keine Ahnung vom dortigen Leistungsniveau, war aber voller Trainerstolz und guten Mutes. Mit dem Zug machten wir uns auf die weite Reise. Das Objekt war schön gelegen und bestand aus mehreren Bungalows. 

Die grundlegenden Abläufe einer solchen Meisterschaft waren mir aus meiner Schülerzeit vertraut. Noch vertrauter wurde es, als ich den Organisator begrüßte. Rainer Schätzke aus Halle. 
Rainer war auch schon der Organisator bei meiner ersten eigenen überregionalen Meisterschafts-Teilnahme als Schüler, Halle-Neustadt/Stadiongebäude 1983 (ich war ein schachlicher Spätstarter). Und Rainer war ebenfalls der Organisator meiner letzten Meisterschaft als Jugendlicher (in Güntersberge), die damals nur wenige Jahre zurück lag. Und vieler weiterer. Dabei erlebte ich Rainer Schätzke immer als freundlich, zuverlässig, sachlich. Er regelte viele Jahre so selbstverständlich, bescheiden und fleißig die Organisation des Nachwuchsschachs, das seine Person für viele fast schon hinter seinem Projekt verschwand. Aber als Jugendlicher würdigt man solche Dinge gewöhnlich ohnehin nicht, da hat man das Urvertrauen, dass ja alles "irgendwie" funktionieren würde und immer jemand da war, der sich kümmerte. Vermutlich haben sehr viele Schachspieler meiner Generation von Rainers unermüdlichem Wirken profitiert - vielleicht ohne sich dessen je bewusst geworden zu sein. Ich erinnere mich, dass Rainer mich in Güntersberge bereits gelegentlich mit Betreuungsaufgaben bedachte, die ich auch gern erledigte. Darunter die Vertrauensaufgabe ein Mädchen ins Dorf zum Arzt zu bringen. Vielleicht hatte Rainer den Blick dafür, dass ich einst sein Nachfolger sein könnte. Und tatsächlich organisiere ich nun schon seit Jahren die Nachwuchs-Meisterschaften des Schachbezirks Halle. Allerdings war der "Bezirk Halle" in der DDR deutlich größer als der heutige "Schachbezirk Halle".
 
Wenn ich nun die Ergebnislisten von Parchim 1989 durchblättere, entdecke ich viele Namen, die später noch in verschiedener Weise meinen Weg kreuzen sollten. So belegte in der AK 9/10 m den vierten Platz ein gewisser Michael Zeuner - heute unser hauptamtlicher Geschäftsführer im Landesschachverband und hochgeschätzter Organisator und Freund im Kinderschach. Meinen Schülern erzähle ich seit Jahrzehnten zur Belehrung die Geschichte, wie der kleine Michael damals als Weißspieler gleich mehrere seiner Gegner austrickste. Mit einer Eröffnungsfalle: 1.Sf3 d5  2.c4 cd  3. e3 Lg4  4. Lc4: Sf6  5. Se5 Exakt nach Ausführung dieses Zuges ließ der sonst eher stille und zurückhaltende Michael ein verzweifeltes Aufstöhnen ertönen. Seine Gegner rafften prompt die Dame weg - und es wurde Matt. 5. . . . Ld1: 6. Lf7# Das klappte nicht nur einmal. Ausgedacht hatte sich das Husarenstück Michaels Trainer Roland Senebald, der nach jeder Aufführung übers ganze Gesicht strahlte und moralinsaure Einwände fröhlich wegwischte. Später betreute ich bei der ersten gesamtdeutschen Meisterschaft in Schwarzburg/Thüringen einen anderen Schützling aus der starken Trainingsgruppe von Roland Senebald. Wilko Stubbe wurde der erste Deutsche Meister aus Sachsen-Anhalt. 

Der Bezirksmeister der AK 9/10m hat den markanten Namen Daniel Dexter. Souverän mit 6 Punkten wurde er seinem Favoritenstatus gerecht. Dahinter drei Kinder mit 5, u.a. Michael. Da ich mit Daniels Betreuer, Dieter Rudolph, den Bungalow teilte, hatte ich oft Gelegenheit mit "Dex" zu spielen oder zu analysieren. Das tat ich mit Begeisterung, hatte ich doch vorher noch nie ein kleines Kind erlebt, das so überaus gut Schach spielen konnte. Ich sah ihn später noch oft bei Nachwuchsmeisterschaften. Viele Jahre danach ergab es sich, dass ich für Daniels Musikgruppe "Schrödingers Katze" ein Konzert organisieren konnte. Im Jahre 2005 war Daniel bei der ersten Südharzmeisterschaft auf Schloß Mansfeld dabei. Heute finde ich ihn nicht mehr in der DWZ-Liste, wohl aber singend auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=_gz3lyNJiMsDer 
Der immer freundliche Dieter Rudolph begegnete mir noch in vielen Mannschaftskämpfen gegen Merseburg.

Ebenfalls in der 9/10m am Start war Ingo Brausemann, der dann als junger Erwachsener die SG Sennewitz mitgründete und zu einem starken Verein im Nachwuchsbereich formte. 
Sieger in der AK 11/12m wurde Rene´ David, dessen Schwester Gundula in der AK 9/10 der Mädchen startete. Ihr Vater und Trainer Bernd David ist (gemeinsam mit Herwig Karius) das Urgestein des Köthener Nachwuchsschachs. In meinen ersten Jahren als junger Trainer war Bernd immer ein freundschaftlicher Ratgeber und sein gelassener, schnoddrig-heiterer Stil als Trainer und Organisator war mir ein großes Vorbild. Später, auf der Ebene der Funktionäre und Entscheider, trübte sich das Verhältnis leider etwas ein.

Punktgleich Zweiter der 11/12m wurde Daniel Wanzek, heute ein starker Spieler, aber noch bekannter als deutschlandweit aktiver Schiedsrichter und Organisator. Daniel mit Udo Lindenberg: https://de.chessbase.com/post/erfurter-schachfestival
Schiedsrichter war hier Günter Thormann aus Aschersleben, später Mitbegründer und langjähriger treuer Verbündeter in der Südharzcup-Serie.
Bei den Mädchen spielte Sandra Herrmann aus Sangerhausen, die heute kein Vereins-Schach mehr spielt, aber in der Heimat blieb und mittlerweile die Hausärztin ihres ehemaligen Trainers, meines lieben Schachfreundes Achim Trost, ist.

Die Bezirks-Meisterschaft insgesamt war geteilt, in Parchim spielten ausschließlich die AK 9/10 und 11/12. In Sittendorf spielte 7/8, in Zschorna 13/14 und in Aken 15/16 und 17/18.   
In Parchim hatte jede der vier Gruppen 20 Teilnehmer, also auch die Mädchen. Allerdings kam mehr als jedes zweite Mädchen aus Halle-Neustadt, bei den Jungs war die geografische Mischung wesentlich bunter. 
Meine Starterin aus Hettstedt landete im hinteren Mittelfeld und in der bald folgenden Wendezeit ging sie dem Schach verloren. Dennoch hatte mir das Turnier enorm viel Spaß gemacht und ich war motivierter als je zuvor, mit meinen heimischen Schützlingen zu trainieren und erneut die Qualifikation zu schaffen. Rückblickend war das Turnier der Moment, ab dem ich ganz langsam vom Schachspieler zum Schachtrainer (und Organisator) wurde. 

Bei den Schachturnieren in der DDR waren nur Erwachsene mit Schachkompetenz anwesend. Zu dieser Schachkultur gehörten Eltern noch überhaupt nicht, die Trainer reisten mit einer Kindergruppe oder Einzelstartern an. Dieses Trainerkollektiv war eine kleine, verschworene Gemeinschaft, die auftretende Probleme gemeinsam und pragmatisch löste. Mit den Jahren wandelte sich die Kultur, wurde individualistischer, ergab Elternteile oder ganze Familienverbünde als Betreuer der Kinder. Die 10er-Zimmer wichen im Verlauf der Zeit den Zweier-Zimmern, die prozentuale Anzahl tatsächlicher Schachspieler bei einem Kinderturnier sank drastisch. Es wurde gut - auf andere Weise..

Ein Sache, die mir gefiel, blieb aber bis heute weitgehend konstant: Die gemeinsamen Abende mit den Trainern dauern durchschnittlich deutlich länger, als die Abende bei einem eigenen Schachturnier. Und die Trainer sind oft - für Schachspielerverhältnisse - gesellige Typen mit beachtlichem Unterhaltungstalent. Unvergessen, auch nach über 30 Jahren, bleibt mir die Siegerehrung des Betreuerblitz-Turniers. Ich hatte gewonnen, denn so ein richtiger Trainer war ich ja damals noch nicht. Aber die Sieges-Preise standen gut verdeckt und man musste aus kryptischen Beschreibungen dieser Preise seine Wahl treffen. Ich entschied mich vermeintlich clever für: "Etwas, das jeder kennt und das fröhlich macht." Dieses "Etwas" gedachte ich meinen Schachfreunden umgehend kredenzen zu können. Norbert Schätzke, Rainers Bruder mit Schalk im Nacken, überreichte mir allerdings - zu meiner Verblüffung und dem großen Gaudi aller Anwesenden - eine "FRÖSI". Für die Spätgeborenen: Dies war in der DDR die offizielle Zeitschrift der Thälmannpioniere. Propaganda, Kinderunterhaltung und Belehrungen. Der Titel ist ein Akronym aus "Fröhlich sein und Singen". 
Es wurde natürlich wieder ein schöner Abend.

(Vielen Dank an Detlef Friedrich für das Heraussuchen der alten Tabellen.)